Erheblichkeit als Wieselwort

„Wieselworte saugen die Bedeutung aus den Sätzen, wie Wiesel Eier aussaugen – nur die leere Schale bleibt, scheinbar intakt, zurück.“ (http://de.wikimannia.org/Wieselwort; abgerufen am 3. Juli 2015).

„Der Nationalökonom Friedrich August von Hayek pflegte in seinen Vorträgen den Begriff „sozial“ ironisch als „Wieselwort“ zu bezeichnen. Je näher man ihm zu kommen scheint, umso schneller entzieht er sich der zugreifenden Hand.“ (zitiert aus der oben angegebenen Quelle und da zitiert nach  Bodo Rollka, Friederike Schultz: Kommunikationsinstrument Menschenbild: Zur Verwendung von Menschenbildern in gesellschaftlichen Diskursen, VS-Verlag 2010, ISBN 3-53117297-2, S. 42).

Heinemann will in einem eben erschienenen Aufsatz den Begriff „sozial“ zwecks Interpretation des Begriffs der „erheblichen Wettbewerbsbeeinträchtigung“ wiederentdeckt haben (S. 13, Rz. 47): „Abreden, die schon ihrer Natur nach schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs sind, schaffen ein soziales Klima der Wettbewerbsfeindlichkeit, das schädlich i.S. des Kartellartikels der Bundesverfassung und des Zweckartikels des Kartellgesetzes ist. Die soziale Schädlichkeit liegt vor bei Kernbeschränkungen im horizontalen und im vertikalen Verhältnis, wobei die Kategorien eng zu interpretieren sind.“

Heinemann meint, dass das „erheblich“ in Art. 5 Abs. 1 KG nichts mit der „Wettbewerbsbeeinträchtigung“ im selben Satz derselben Bestimmung zu tun hat. Die Erheblichkeit einer Wettbewerbsabrede gebe über deren Schädlichkeitspotenzial Auskunft, während die Wettbewerbsbeeinträchtigung etwas über die tatsächlichen Auswirkungen dieser Abrede besage („Die Annahme grundsätzlicher Erheblichkeit von Verhaltensweisen, die unter die Vermutungstatbestände fallen, steht nicht im Widerspruch zu der Forderung nach Feststellung der Schädlichkeit in jedem Einzelfall. Die Vereinbarkeit beider Aspekte wird aber nur deutlich, wenn man – wie hier – zwischen Schädlichkeitspotential («Erheblichkeit») und Auswirkungspostulat («Beeinträchtigung») unterscheidet.“ S. 8, Rz. 24).

Und da gewisse Abreden bereits ein soziales Klima der Wettbewerbsfeindlichkeit schaffen, brauchen die tatsächlichen Auswirkungen bei diesen Abreden gar nicht mehr geprüft zu werden, um zum Befund „erhebliche Wettbewerbsbeeinträchtigung“ zu gelangen (vgl. S. 13, Rz. 48).

Die Interpretation von Heinemann ist ein gutes Beispiel für den Gebrauch des Begriffs sozial als Wieselwort. Es saugt hier auch dem Begriff Erheblichkeit alle Bedeutung aus, ja macht es selbst zum Wieselwort. Dass z.B. Preisbindungen und andere vom Vermutungstatbestand in Art. 5 Abs. 3 und 4 KG erfassten vertikalen Wettbewerbsabreden in vielen Fällen effizient, also nicht schädlich sind, hat die Ökonomie seit längerem nachgewiesen und haben auch die Gerichte z.B. in den USA erkannt. Dass wohl auch eine Preisabrede unter drei Quartierbäckern keine sozial schädlichen Auswirkungen hat und auch kein Klima der Wettbewerbsfeindlichkeit schafft, wenn sich diese Bäcker der Konkurrenz von Migros, Coop, Spar, Volg etc. ausgesetzt sehen, dürfte ebenso einleuchten.

Heinemann hat sich in seinem Aufsatz keinen Augenblick mit der Frage befasst, weshalb der Wettbewerb überhaupt geschützt werden soll. Der Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren. Niemand weiss somit, welche Ergebnisse der Wettbewerb hervorbringen wird. Geschützt wird der Wettbewerb indes, weil die Ergebnisse, die er zeitigt, in aller Regel wünschenswert sind. Wenn niemand weiss, welche Resultate der Wettbewerb hervorbringt, diese Resultate aber in aller Regel gut sind, dann soll möglichst niemand anderer an die Stelle dieses nützlichen, aber für niemanden durchschaubaren Prozesses treten.

Das KG sieht genau das vor. Es untersagt Wettbewerbsabreden nur dann, wenn sie den Wettbewerb entweder beseitigen oder ihn derart – eben erheblich – beschränken, dass allfällige positive Wirkungen der Wettbewerbsbeschränkung die negativen Wirkungen dieser Beschränkung nicht mehr aufzuwiegen vermögen. Wird der Wettbewerb tatsächlich als Entdeckungsverfahren verstanden, dann muss die Hürde “Erheblichkeit” sicherstellen, dass sich die Behörde nicht ohne Not an die Stelle des Wettbewerbs setzt und darüber entscheidet, “wer der Sieger ist”, d.h. ob eine Wettbewerbsabrede effizient ist.* **

Recht hat Heinemann, wenn er meint, dass „häufig die nähere Bestimmung von Tatbestandsmerkmalen mit wachsender Erfahrung an Kontur gewinnt, lässt sich für Art. 5 Abs. 1 KG der umgekehrte Befund erstellen: Nie herrschte so grosse Unsicherheit bei den Grundkategorien des Kartellverbots wie heute.“ Es ist deshalb an der Zeit, dass das Bundesgericht die notwendige Rechtssicherheit herstellt. Rechtssicherheit – eine für das erfolgreiche Wirtschaften essentielle Bedingung – kann nur bestehen, wenn das Recht auch von den Rechtsunterworfenen verstanden werden kann (vgl. dazu hier). Eine Interpretation wie sie Heinemann vorschlägt, ist diesem Ziel nicht förderlich. Zu hoffen ist deshalb auf ein Urteil im Sinne der Wirtschaftenden und eines Verständnisses des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren.

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* Das kann man übrigens mit etwas formaler Logik beweisen. Ich habe das hier getan. Dieser Beweis beruht einzig auf wortwörtlich wiedergegebenen Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen als (Beweis)Prämissen und anerkannten Regeln der formalen Logik zwecks Beweisführung. Wer einen Beweis anzweifelt, muss zeigen, dass entweder die Prämissen, worauf der Beweis beruht, falsch sind, oder dass sich Fehler in der Beweisführung finden. Es reicht nicht vorzutragen, der Beweis sei wettbewerbspolitisch motiviert, missachte Wortlaut und System des Gesetzes, verkenne die Zusammenhänge zwischen Institutionenschutz und Individualschutz und verkenne  weiter, dass die Struktur der Jurisprudenz eher topisch und nicht axiomatisch sei (so aber R. Zäch, Schweizerisches Kartellrecht. 2. Auflage, Stämpfli Verlag AG Bern, 2005, Rz. 397 ff.).

** Deshalb ist auch die unter anderem von Heinemann vertretene Auffassung fehlgeleitet, wonach ein form-based approach bei der Subsumption der Tatbestände angezeigt und die ökonomische Analyse erst bei der Rechtfertigung (Effizienzverteidigung) gefragt sei.-


Kommentare

3 Antworten zu „Erheblichkeit als Wieselwort”.

  1. Avatar von Markus Saurer
    Markus Saurer

    Hat dies auf C-C-Netzwerk Blog rebloggt.

  2. Avatar von Noch mehr zur Erheblichkeit | Wettbewerbspolitik

    […] etwas mit Wettbewerb zu tun haben sollte, ist mehrfach belegt (vgl. z.B. hier, hier, hier und an vielen weiteren Stellen). So soll der Wettbewerb die Unternehmen anspornen, den […]

  3. Avatar von Die Suche Nach Legitimation | WETTBEWERBSPOLITIK.org

    […] In der Schweiz wurde die Debatte darüber, welchen Zweck das Kartellrecht genau verfolgt, nie wirklich diskutiert. Zwar steht dieser Zweck in der Bundesverfassung und im Zweckartikel des Kartellgesetzes – volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen sollen verhindert werden – , aber insbesondere über den Inhalt des Begriffs „sozial“ lässt sich lange und ergebnislos streiten (vgl. den Beitrag hier zum Wieselwort „sozial“). […]

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