Ein Verfahren aus dem Elfenbeinturm: lose – lose anstatt win – win

Nachdem

  • das Bundesverwaltungsgericht im Gaba-Entscheid zwecks Prüfung der Erheblichkeit einer Wettbewerbsbeschränkung das Bundesgericht zitiert hat (E 11.1.5: „Das Bundesgericht (…) [bejaht] eine erhebliche Wettbewerbsbeeinträchtigung dann (…), wenn die Abrede einen auf dem entsprechenden Markt relevanten Wettbewerbsparameter (Preis, Gebiet, Menge) betrifft und die Beteiligten einen erheblichen Marktanteil halten (vgl. BGE 129 II 18 „Sammelrevers“ E. 5.2.1 m.w.H.)“)
  • und wegen Nichtbeachtens des zweiten Halbsatzes der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei den in Artikel 5 Absätze 3 und 4 KG enthaltenen Tatbeständen a maiore ad minus auf per se Erheblichkeit geschlossen hat (E 11.1.8),
  • und die Wettbewerbskommission in der kürzlich publizierten Verfügung betreffend Kosmetikprodukte bei eben einem solchen Tatbestand die Erheblichkeit mangels quantitativer Auswirkungen verneint hat,

wird für den in der realen Wirtschaft Tätigen die Orientierung schwierig.

Aber die reale Wirtschaft interessiert offensichtlich wenig. Das kann (wieder und wieder und wieder) am Widerspruchsverfahren in Artikel 49a Absatz 3 Bst. a KG gezeigt werden. Dem Bundesrat ist klar, dass dieses Verfahren in seiner aktuellen Form untauglich ist (Botschaft vom 22. Februar 2012, S. 3932): „Wollen die Unternehmen kein Sanktionsrisiko tragen, müssen sie ihr Verhalten (…) bereits sofort nach der blossen Eröffnung einer Vorabklärung, welche die Wettbewerbsbehörde ohne weitere Voraussetzungen vornehmen kann, rückgängig machen. Dies bringt die Gefahr mit sich, dass das Unternehmen auf ein wirtschaftlich vernünftiges Verhalten, das eigentlich zulässig wäre, verzichtet. Diese Gefahr sei umso reeller, als die Wettbewerbsbehörde im Zweifelsfall wegen der fehlenden Begründungspflicht den Anreiz habe, eine Vorabklärung zu eröffnen, solange nicht sicher sei, dass wirklich kein kartellrechtliches Problem bestehe.“

Deshalb hat der Bundesrat vorgeschlagen, das Widerspruchsverfahren in der bekannten Weise zu ändern (Fristverkürzung, Sanktionsdrohung lebt erst bei Eröffnung einer Untersuchung wieder auf, nicht bereits bei Eröffnung einer Vorabklärung). Für den Bundesrat bringen diese Änderungen folgenden Vorteil (Botschaft, S. 3960): „Das Unternehmen hat somit die Möglichkeit, nach Eröffnung einer Vorabklärung (Art. 26) sein Vorhaben «auf Zusehen hin» (d. h. bis zur allfälligen Eröffnung einer formellen Untersuchung) ohne das Risiko einer Sanktion umzusetzen. Zweck ist, dass bei gemeldeten heiklen Verhaltensweisen, welche im Voraus weder als klar erlaubt noch als klar verboten qualifiziert werden können, anhand der Beobachtung der effektiven Marktverhältnisse beurteilt werden kann, ob sie eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung darstellen oder nicht.

Somit geht der Bundesrat davon aus, dass ein Unternehmen bei unklarer Rechtslage und bei nach wie vor drohenden Sanktionen viel Geld in die Hände nehmen und ein Vorhaben, welches es für kartellrechtskonform hält, „auf Zusehen hin“ umsetzen wird, damit die Behörde die Entwicklung der Marktverhältnisse beobachten kann, um dann doch vielleicht ein Verfahren zu eröffnen, an dessen Ende Sanktionen in Millionenhöhe stehen können. Man ist versucht zu sagen „das kann nicht sein“, aber weit gefehlt, der Bundesrat bzw. die Spezialisten in der Bundesverwaltung sind ganz offensichtlich dieser Meinung, denn (Botschaft, S. 3960): „Kommt die Wettbewerbsbehörde am Ende einer Vorabklärung zum Schluss, dass bei der gemeldeten Verhaltensweise (allenfalls in angepasster Form) tatsächlich Anhaltspunkte für einen Verstoss gegen das KG bestehen, wird sie dem Unternehmen eine bevorstehende Untersuchungseröffnung vorab mitteilen, damit das Unternehmen noch reagieren kann: Das Unternehmen hat bis zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit, das wettbewerbsbeschränkende Verhalten aufzugeben oder (allenfalls in Absprache mit den Wettbewerbsbehörden) anzupassen.

Nachdem das Unternehmen also Hunderttausende, eher Millionen, z.B. in den Aufbau einer neuen Vertriebsorganisation investiert und sich im Markt positioniert hat, wird ihm dann gnädigerweise Gelegenheit gegeben, die Investition abzuschreiben oder das ganze Vorhaben nach dem Gusto der Behörden zu ändern?

Sind die Kartellrechtspezialisten in der Bundesverwaltung wirklich der Meinung, ein Unternehmen würde viel Geld und Reputation riskieren, damit die Behörde am lebenden Objekt beobachten kann, ob sie allenfalls einschreiten und Sanktionen verhängen möchte? Eine solche Auffassung ist erstens realitätsfremd. Die vorgeschlagenen Änderungen am Widerspruchsverfahren werden deshalb nichts an der Untauglichkeit dieses Verfahrens ändern. Zweitens aber ist es nicht notwendig, die Sanktionsdrohung aufrecht zu erhalten, damit den Unternehmen die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst bleibt. Bei der Umsetzung eines Vorhabens fallen grosse Investitionen an. Zudem riskiert ein Unternehmen erhebliche Reputationsverluste, wenn es ein Produkt oder eine Vertriebsform später vom Markt zurückziehen oder ändern muss. Ein Unternehmen riskiert somit auch ohne Sanktionsdrohung grosse Verluste an Geld und Reputation, wenn es ein kartellrechtlich problematisches Vorhaben umsetzt. Weshalb es die Behörden in einer solchen Situation als notwendig erachten, die Sanktionsdrohung aufrecht zu erhalten, ist unerklärlich.

Die Situation heute und auch morgen, falls die Revisionsvorschläge umgesetzt werden, ist eine typische lose-lose-Situation: Meldungen erfolgen kaum, denn sie machen keinen Sinn. Die Behörde wird somit nicht über das Marktgeschehen informiert und Sanktionen drohen den Unternehmen mit oder ohne Meldung.

Liebe Parlamentarier, ändert doch dieses Verfahen wie hier bereits öfters angeregt. Eine Meldung eines Vorhabens vor Umsetzung muss automatisch von einer späteren Sanktion befreien. Damit schafft Ihr eine win-win-Situation: Die Behörden werden viele Meldungen erhalten und sind dementsprechend über das Marktgeschehen informiert, was Eingriffe erleichtert, sofern solche notwendig sind. Den meldenden Unternehmen drohen keine Sanktionen (aber nach wie vor der Verlust von Investitionen, sollten sich die Vorhaben später als nicht kartellrechtskonform herausstellen).

Gerade weil die Orientierung im Kartellrechtsdschungel so schwierig ist, benötigen die Unternehmen ein Verfahren, welches, wenn auch keine absolute Rechtssicherheit, so doch wenigstens von der Sanktionsdrohung befreit. Die Unternehmen benötigen das übrigens nicht nur, sie haben sogar ein Recht darauf (nulla poena sine lege certa).

4 Antworten zu „Ein Verfahren aus dem Elfenbeinturm: lose – lose anstatt win – win”.

  1. Ja, das wäre sinnvoll – klar geschrieben und gut argumentiert, Aedu! LG Chrigu

  2. […] und vor allem auch um die durchaus nötige Behördenreorganisation. (Zum Widerspruchsvefahren vgl. diesen Beitrag und die dort angegebenen […]

  3. […] wie hier und in anderen Beiträgen beschrieben als nicht wirklich dringlich, teilweise sogar als untauglich. Zum anderen werden berechtigte Anliegen des Parlaments nur widerwillig umgesetzt und mit […]

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