Gaba, das Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa) und false positives

Gaba, das Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa) und false positives

Die staatliche Reaktion auf Handlungen muss voraussehbar sein, andernfalls wäre der Bürger der Willkür des Staates ausgesetzt.

Eine Strafe darf deshalb nur dann ausgesprochen werden, wenn der Betroffene die Rechtslage (Inhalt und Grenzen der Gebots- oder Verbotsnormen) zumindest hätte kennen können und so sein Verhalten hätte daran ausrichten können. Strafen sollen in diesem Sinne präventive Wirkung entfalten.

Im BGE vom 26. Juni 2016 betreffend Gaba und Gebro (Elmex) befand das Bundesgericht, dass diejenigen Abredetypen, welche in Art. 5 Abs. 3 und 4 KG aufgeführt sind, zu sanktionieren sind, sofern solche Abreden gemäss Art. 5 Abs. 1 KG unzulässig seien (E.9.4.6). Zudem erklärte das Bundesgericht, dass Abreden nach Art. 5 Abs. 3 und 4 KG grundsätzlich das Kriterium der Erheblichkeit nach Art. 5 Abs. 1 KG erfüllen. Dabei genüge es, dass Abreden den Wettbewerb potentiell beeinträchtigen können (E 5.6). Zudem stelle Art. 2 Abs. 2 KG klar, dass auch Auslandssachverhalte, welche sich in der Schweiz auswirken können, unter das KG fallen.

Damit hat das Bundesgericht in einem mit Mehrheitsentscheid (3 zu 2) gefällten Urteil gleich mehrere seit Jahren umstrittene Fragen geklärt:

  • Welche Abreden sind nach Art. 49 Abs. 1 KG sanktionierbar?
  • Wie ist der Begriff der Erheblichkeit zu verstehen?
  • Müssen Abreden, um unter das KG zu fallen, tatsächlich Auswirkungen in der Schweiz haben?

Trotzdem meinte das Bundesgericht, dass „Art. 49a Abs. 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 KG für eine Sanktionsauferlegung genügend bestimmt ist“ (E.9.6.1).

In der Tat?

Nachdem all die oben erwähnten Fragen am 26. Juni 2016 erstmals höchstrichterlich beurteilt wurden, dieses Urteil zudem nicht einstimmig, sondern mit knappem Mehr gefällt wurde, vorab vier zur Frage der Erheblichkeit widersprüchliche Urteile des Bundesverwaltungsgerichts ergangen waren, soll es dem Betroffenen Jahre vor diesem Datum möglich gewesen sein, die Rechtslage bereits zu kennen und sein Verhalten danach auszurichten? Wohl kaum.

Allfällige Bedenken hinsichtlich einer hinreichenden Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage für direkte Sanktionen lässt das Bundesgericht indessen „insbesondere dann nicht gelten, wenn eine Partei aufgrund von Hinweisen der Wettbewerbskommission im Rahmen einer eröffneten Vorabklärung oder Untersuchung Gewissheit hat, dass sie mit ihrem Verhalten ein allfälliges Sanktionsrisiko eingeht“ (BVGE 2011/32, E.4.6.1, S. 70 f. [B-2050/2007], mit Verweis auf BGE 135 II 60 E. 3.2.3).

Wenn also das Sekretariat im Rahmen einer Vorabklärung, worin es nach Anhaltspunkten für unzulässige Wettbewerbsbeschränkungen sucht, erklärt, es könnte sein, dass das Verhalten oder die Abrede unzulässig und sanktionierbar sei, dann ist das betroffene Unternehmen laut Bundesgericht über die Rechtslage derart aufgeklärt, dass es sein Verhalten danach richten kann. Die Bestimmtheit der Norm muss sich damit nicht mehr aus dem Gesetz selbst ergeben, sondern sie ergibt sich aus der Meinung (Hinweisen) des Sekretariats im Rahmen einer Vorabklärung. Nulla poena sine lege certa?

Das Unternehmen hat die Möglichkeit das Verhalten (hier wird damit auch eine Abrede erfasst) aufzugeben, zu ändern oder weiterzuführen. Führt es das Verhalten weiter – weil im guten Glauben, das Verhalten sei kartellrechtlich unbedenklich, denn weshalb sonst würde das Verhalten weitergeführt -, trägt das Unternehmen fortan ein Sanktionsrisiko. Gibt es das Verhalten auf oder ändert es sein Verhalten, trägt es ebenfalls ein Sanktionsrisiko für den Zeitraum, in welchem es das vom Sekretariat oder der Kommission als möglicherweise sanktionierbare Verhalten ausgeübt hat. Die Sanktion fällt in diesem Fall allerdings geringer aus oder es wird aus Praktikabilitätsüberlegungen ganz darauf verzichtet.

Um jedes Sanktionsrisiko zu vermeiden (d.h. gerade wegen der mangelnden Bestimmtheit der materiellen KG-Bestimmungen), sieht das Kartellgesetz die Möglichkeit vor, ein Verhalten vor seiner Umsetzung bei der WEKO zu melden (Art. 49a Abs. 3 Bst. a KG). Die Sanktionsdrohung entfällt auch in diesem Fall allerdings nur, wenn die WEKO nicht innerhalb von fünf Monaten nach Eingang der Meldung ein Verfahren eröffnet und das Unternehmen das gemeldete Verhalten danach auch nicht umsetzt. In der Praxis drohen die Behörden die Eröffnung eines Verfahrens regelmässig an, wenn sie sich nicht sicher sind, ob das gemeldete Verhalten kartellrechtlich bedenklich ist oder nicht. Von „lege certa“ kann in diesen Fällen also keine Rede sein.

Diese Tatsachen – es ist mit einiger Gewissheit keine oder „bloss“ eine reduzierte Sanktion zu befürchten, wenn das Verhalten aufgegeben oder geändert wird; die WEKO droht ein Verfahren an, wenn sie sich ihrer Sache nicht sicher ist – beeinflussen das Verhalten des Unternehmens stark in Richtung „aufgeben“ oder „ändern“ bzw. „gar nicht erst umsetzen“.

Da zum Zeitpunkt einer Meldung, einer Vorabklärung oder einer laufenden Untersuchung nicht klar ist, ob das Verhalten überhaupt kartellrechtswidrig ist, aber aus den erwähnten Gründen ein starker Anreiz besteht, das Verhalten aufzugeben, besteht eine erhöhte Gefahr von Regulierungsfehlern 1. Ordnung (false positive).

Ob das Bestimmtheitsgebot im vorliegenden Fall und in vielen anderen Fällen tatsächlich erfüllt ist, erachte ich als zumindest zweifelhaft. Mit Sicherheit aber behindert die beschriebene Praxis innovative Geschäftsmodelle. In der nächsten Kartellrechtsrevision sollte deshalb das Sanktionsregime gründlich überdacht werden.

 

P.S: In der EU gibt es überdies ganz ähnlich gelagerte Bedenken. Zur Tatsache, dass Google nach sieben Jahren Untersuchung mit 2.4 Milliarden Euro für dasselbe Verhalten, welches die USA als prokompetitiv beurteilte, gebüsst wurde, meint Pinar Akman: „Fining a company more than twice as much any other company has been fined for an abuse of a dominant position in the history of EU competition law in a case where the practice is at least arguably a novel type of abuse does not follow previous practice of the EU Commission where no fine was imposed due to the practice being a novel abuse.

Zur Lage in der EU vgl. auch den Blogbeitrag von Denis Waelbroeck 

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