Ich kann selbstverständlich in diesen paar Kommentarzeilen nicht den ganzen Disput Heizmann vs. Raass aufrollen und will mich deshalb auf einen spezifischen Punkt sowie auf eine generelle Bemerkung beschränken:Heizmann hält fest: "Die Frage, ob ein Unternehmen selbstverschuldet in eine Abhängigkeit geriet, ist [demgegenüber] für den Zeitpunkt der Eingehung der entsprechenden Beziehung zu beantworten […]."In der dynamischen Realität der Märkte darf es doch für die Beurteilung eines aktuellen Abhängigkeitsverhältnisses nicht darauf ankommen, ob letzteres vor Jahren durch den Zwang der Umstände oder aber selbstverschuldet zu Stande gekommen ist. Über die Zeit ergeben sich aufgrund der technisch-ökonomischen Entwicklung meistens Alternativen, die es "abhängigen" Unternehmen erlauben, frühere Abhängigkeiten zu kappen.Ist dies der Fall, dann entspricht das Verharren in einer ehemaligen Zwangslage doch ohne Zweifel einem Selbstverschulden. Selbstverschuldet verharrten m.E. viele Uhrenhersteller über Jahre oder gar Jahrzehnte in Abhängigkeit von Uhrwerkslieferungen durch die ETA Ebauches AG.Das Beispiel ETA dient aber auch zur Illustration der generellen Problematik einer auf vertikal-strukturelle Abhängigkeiten erweiteren Marktmachtdefinition.Wettbewerb ist ein Zwangssystem für die Anbieter und ein System grösstmöglicher Freiheiten für die Endkunden (von Weizsäcker). Zu keiner Zeit hätte die Nicht-Belieferung kleinerer Uhrenhersteller durch die ETA eine spürbare Wirkung auf die fast unendliche nationale und internationale Auswahl an Preis-/Leistungsoptionen für die Uhrenkäufer gehabt. Mit dem Schutz der von der ETA strukturell abhängigen Uhrenhersteller hat die Weko letztlich nur einfallslose und ineffiziente Wettbewerber geschützt und ein ungutes Zeichen für einen "Wettbewerb der Schlafmützen" (Amstutz/Reinert) gesetzt.Die Interpretation gemäss Beitrag Raass führt jedenfalls weiter weg von dieser grundsätzlichen Gefahr als die Interpretation Heizmann, weshalb Raass Unterstützung verdient.
Sehr geehrter Herr HeizmannEs trifft auch m.E. zu, dass mit der von Ihnen vorgeschlagenen Interpretation von Selbstverschulden die – ebenfalls von Ihnen vorgeschlagene – Vermutung nicht umgestossen würde. Kaum zutreffend ist demgegenüber Ihre zweite Schlussfolgerung, wonach Ihre Interpretation auch eine Versicherung für Klumpenrisiken ausschliessen würde.Sie wollen zur Beurteilung des Selbstverschuldens fragen, ob ein Unternehmen in der betreffenden Situation anders hätte handeln können. Falls es in der betreffenden Situation nicht bereits abhängig war, dann hätte es – definitionsgemäss – sehr wohl anders handeln können. Diesem Problem wollen sie wiederum damit begegnen, dass "von keinem Unternehmen erwartet werden [soll], dass es beispielsweise einen lukrativen Grossauftrag eines langjährigen Kunden ablehnt." Aus einem tatsächlich lukrativen Auftrag kann keine Abhängigkeit entstehen. Der Schlüssel liegt im Inhalt des Begriffs "lukrativ". Wir sind uns sicher einig, dass lukrativ nur sein kann, was letztlich Deckung aller Kosten (enthält auch Eigenkapitalverzinsung) erlaubt. Falls ein Unternehmen einen Vertrag unterzeichnet, welcher Kostendeckung nicht garantiert, hat es entweder schlecht kalkuliert oder ist das Risiko bewusst eingegangen. In beiden Fällen liegt Selbstverschulden vor.Diese Problematik ist seit längerem bekannt. Auf den Punkt gebracht hat sie Oliver Williamson (The Economic Institutions of Capitalism, 1985), welcher von einer "fundamentalen Transformation" spricht, nachdem ein Unternehmen in transaktionsspezifische Sach- oder Humananlagen investiert hat; dies gerade um einen lukrativen Auftrag zu ergattern. Sobald solche transaktionsspezifischen Investitionen erfolgen, entstehen Abhängigkeiten. Diesen muss sich ein verantwortungsvoller Unternehmer jedoch bewusst sein und entsprechende (z.B. vertragliche) Vorkehren treffen. Sonst ist er selbst Schuld. Das Kartellgesetz darf hier nicht zum Korrekturmechanismus verkommen. Ansonsten wird es zur Nachverhandlung von Verträgen benützt werden, welche sich im Nachhinein als eben nicht so lukrativ wie zu Beginn gedacht erweisen.Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob wir letztlich von derselben Sache sprechen: Ihre Vorschläge sollen vermutlich dazu dienen, einer Gesetzesbestimmung Leben einzuhauchen, deren Reichweite unklar geblieben ist und dementsprechend grosse Rechtsunsicherheiten schafft. Ich bezweifle demgegenüber Sinn und Zweck dieser Bestimmung. Sie ist m.E. dem Wettbewerb, welchen das KG ja fördern sollte, hinderlich. Und zudem: Ist Ihrem Anliegen nicht schon heute weitestgehend mit der Bestimmung in Art. 21 OR entsprochen, in welchem Übervorteilung ins Recht gefasst wird?
[…] Marktmacht und der Frage des Selbstverschuldens vergleiche auch die Blogbeiträge hier und hier. Kommentare zu früheren Gutachten des ZHAW finden sich zudem hier und hier. Und hier ein […]