Das Zentrum für Wettbewerbs- und Handelsrecht der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat eben ein Gutachten publiziert, worin es zu folgendem Ergebnis gelangt (S. IV): „Ein Grossteil der Händler befindet sich in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber den Importeuren. In diesen Fällen sind letzte marktbeherrschend i.S.v. Art. 4 Abs. 2 KG gegenüber den Händlern und Werkstätten.“
Das ZHAW gelangt aufgrund einer empirischen Studie (sprich: Befragung der Mitglieder des Auto Gewerbe Verbandes) zu diesem Resultat. Die Befragung ergab, dass viele Händler sowohl so genannt bezugsquellenbedingt abhängig sind – falls sie von ihren Lieferanten nicht weiter beliefert werden, sind sie in ihrer Existenz gefährdet – als auch investitionsbedingt abhängig – die Händler haben markenspezifische Investitionen getätigt, welche sie nicht amortisieren können und damit verlieren, falls der Vertrag mit ihrem Markenlieferanten gekündigt oder zu ihren Ungunsten geändert wird. Damit Marktbeherrschung gemäss Art. 4 Abs. 2 KG vorliegt, dürfen diese Abhängigkeitsverhältnisse freilich nicht selbst verschuldet sein. Solches Selbstverschulden liegt gemäss dem Gutachten nicht vor (S. 38): „Aus der empirischen Studie ergibt sich, dass das festgestellte Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht zwischen Importeuren und Händlern wie auch die unzureichend vorhandenen Ausweichmöglichkeiten den gesamten Automobilhandelsmarkt betreffen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit des einzelnen Händler [b]esteht in der Regel eo ipso aufgrund der Marktstruktur des Kfz-Vertriebs (Bezugsquellenseitige Abhängigkeit) oder der von Importeuren veranlassten und für Händler ungünstige Dispositionen (Inverstitionsseitige Abhängigkeit).“
Man ist erstaunt. Weil der gesamte Automobilhandelsmarkt betroffen ist und sich die Abhängigkeiten zum einen aus der Marktstruktur und zum andern aus den von den Importeuren veranlassten und für Händler ungünstigen Dispositionen ergeben, liegt kein Selbstverschulden vor? Anders gesagt: Weil die Händler abhängig sind, kann kein Selbstverschulden vorliegen?
Zur Frage des Selbstverschuldens sei hier aus der Evaluation des Kartellgesetzes von economiesuisse zitiert (S. 21f. der Evaluation, Fussnoten weggelassen): Die Weko hat „[…] im Fall Coopforte festgehalten, dass Art. 4 Abs. 2 KG Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Anbieter und Nachfragern erfass[t]. So sei ein Lieferant von seinem Händler dann abhängig, wenn erstens für einen Lieferanten keine vergleichbaren Abnehmer existierten oder deren Nachfrage dem Lieferanten nicht ermögliche, seine Fixkosten zu decken. Zweitens, wenn bestimmte Aktiva des Lieferanten spezifisch auf die Nachfrage des Händlers ausgerichtet seien und diese Aktiva nicht zu einem ökonomisch vertretbaren Aufwand für die Produktion anderer Güter verwendet werden können. Selbst wenn diese Voraussetzungen gegeben seien, müsse geprüft werden, ob die so festgestellte Abhängigkeit keine Konsequenz einer strategischen Entscheidung des Lieferanten sei, die sich nun als unvorteilhaft erweise, das heisst, ob es sich nicht um Selbstverschulden handle, denn bei Selbstverschulden könne sich kein wettbewerbsrechtliches Problem ergeben. Weil es einleuchten dürfte, dass Investitionen, die spezifisch auf die Nachfrage eines bestimmten Händlers ausgerichtet sind, nur infolge einer strategischen Entscheidung des Lieferanten getätigt werden, dürfte ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der WEKO ausserhalb eines Zusammenschlussverfahrens oder einer Bildung eines Nachfragerkartells nie gegeben sein. […] [D]as Parlament wollte mit der Änderung von Art. 4 Abs. 2 KG keine Versicherung für Klumpenrisiken schaffen. Es ist anzunehmen, dass ein Unternehmen, das einem Abnehmer einen derart grossen Teil seiner Produktion liefert, sich bewusst ist, dass bei Verlust dieses Abnehmers seine Existenz gefährdet ist. Es dürfte somit ausser Frage stehen, dass ein Unternehmen sich des Klumpenrisikos bewusst ist und daher kaum ohne Selbstverschulden ein derartiges Klumpenrisiko auf sich nimmt. Demnach bestünde der klärende Beitrag der WEKO zu der Fragestellung darin, dass es keine nicht selbstverschuldeten und damit schützenswerten Abhängigkeiten gibt. Ob die WEKO dies mit letzter Konsequenz so feststellen wollte, bleibt abzuwarten.“
Sollte sich die Weko je zu den Abhängigkeitsverhältnissen im Automobilhandel äussern, darf man gespannt sein, wie sie die Frage des Selbstverschuldens beantworten wird.
Zum Konzept der relativen Marktmacht und der Frage des Selbstverschuldens vergleiche auch die Blogbeiträge hier und hier. Kommentare zu früheren Gutachten des ZHAW finden sich zudem hier und hier. Und hier ein interessanter und aktueller Blogbeitrag zur Regulierung des Automobilvertriebs in gewissen Teilstaaten der USA. Wie den Kommentaren zum Blogbeitrag zu entnehmen ist, stehen mögliche Abhängigkeitsverhältnisse am Ursprung dieser Regulierung. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Weko davon nicht inspirieren lassen sollte.