Anlass zu diesem Post gibt mir ein Beitrag von Reto A. Heizmann, der eben hier erschienen ist. Darin wird vorgeschlagen, Vermutungstatbestände sowohl bezüglich relativer Marktmacht (betrifft Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Lieferant und Abnehmer) als auch bezüglich „klassischer“ (absoluter) Marktbeherrschung einzuführen.
So soll vermutet werden, dass Lieferanten respektive Abnehmer, die 30% oder mehr ihres Umsatzes mit einem Abnehmer respektive Lieferanten erwirtschaften, von diesem wirtschaftlich abhängig sind und somit der Abnehmer respektive der Lieferant als relativ marktmächtig und damit als marktbeherrschend im Sinne von Art. 4 Abs. 2 i.V. mit Art. 7 KG gilt.
Diese Vermutung könnte unter anderem mit dem Nachweis umgestossen werden, dass sich der Lieferant respektive Abnehmer selbstverschuldet in die wirtschaftliche Abhängigkeit begab. In Anlehnung an die Praxis der Wettbewerbskommission wäre ein solches Selbstverschulden dann zu bejahen, wenn die Abhängigkeit eine Konsequenz einer strategischen Entscheidung ist, die sich im Nachhinein als unvorteilhaft erweist und sich somit nicht aufgrund bestimmter Marktverhältnisse ergab.
Durch die Einführung eines solchen Vermutungstatbestands will Heizmann insbesondere grössere Rechtssicherheit schaffen. Dieses Ziel würde indessen mit Sicherheit verfehlt, denn erstens besagt die Vermutung nichts anderes als was bereits Weko-Praxis ist, und zweitens dürfte die Vermutung regelmässig umgestossen werden. Zur Begründung seien die folgenden Zeilen aus der Evaluation des Kartellgesetzes von economiesuisse zitiert (S. 21 f. der Evaluation; Fussnoten weggelassen):
„Ferner wird die Rechtssicherheit für Unternehmen in der Schweiz zusätzlich dadurch belastet, dass der Gesetzgeber anlässlich der letzten Gesetzesrevision die Begriffsdefinition verändert hat (der Klammereinschub zur Umschreibung der Marktteilnehmer wurde in Art. 4 Abs. 2 KG neu hinzugefügt) und dass eine Debatte darüber entbrannte, was denn nun von Art. 4 Abs. 2 KG alles erfasst werde. Auch die Praxis der Wettbewerbskommission hat hier keine Klärung gebracht: Zwar wurde im Fall Coopforte festgehalten, dass Art. 4 Abs. 2 KG Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Anbieter und Nachfragern erfasse. So sei ein Lieferant von seinem Händler dann abhängig, wenn erstens für einen Lieferanten keine vergleichbaren Abnehmer existierten oder deren Nachfrage dem Lieferanten nicht ermögliche, seine Fixkosten zu decken. Zweitens, wenn bestimmte Aktiva des Lieferanten spezifisch auf die Nachfrage des Händlers ausgerichtet seien und diese Aktiva nicht zu einem ökonomisch vertretbaren Aufwand für die Produktion anderer Güter verwendet werden können. Selbst wenn diese Voraussetzungen gegeben seien, müsse geprüft werden, ob die so festgestellte Abhängigkeit keine Konsequenz einer strategischen Entscheidung des Lieferanten sei, die sich nun als unvorteilhaft erweise, das heisst, ob es sich nicht um Selbstverschulden handle, denn bei Selbstverschulden könne sich kein wettbewerbsrechtliches Problem ergeben. Weil es einleuchten dürfte, dass Investitionen, die spezifisch auf die Nachfrage eines bestimmten Händlers ausgerichtet sind, nur infolge einer strategischen Entscheidung des Lieferanten getätigt werden, dürfte ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der WEKO ausserhalb eines Zusammenschlussverfahrens oder einer Bildung eines Nachfragerkartells nie gegeben sein. Dies gilt selbst dann, wenn die vorne erwähnten Kriterien (1. und 2.) alternativ, das heisst nicht kumulativ, zur Anwendung gelangen, denn das Parlament wollte mit der Änderung von Art. 4 Abs. 2 KG keine Versicherung für Klumpenrisiken schaffen. Es ist anzunehmen, dass ein Unternehmen, das einem Abnehmer einen derart grossen Teil seiner Produktion liefert, sich bewusst ist, dass bei Verlust dieses Abnehmers seine Existenz gefährdet ist. Es dürfte somit ausser Frage stehen, dass ein Unternehmen sich des Klumpenrisikos bewusst ist und daher kaum ohne Selbstverschulden ein derartiges Klumpenrisiko auf sich nimmt. Demnach bestünde der klärende Beitrag der WEKO zu der Fragestellung darin, dass es keine nicht selbstverschuldeten und damit schützenswerten Abhängigkeiten gibt. Ob die WEKO dies mit letzter Konsequenz so feststellen wollte, bleibt abzuwarten.“
Schwerer dürfte allerdings wiegen, dass die Ausdehnung des Marktbeherrschungsbegriffs auf Tatbestände so genannt relativer Marktmacht nicht nur zusätzliche Rechtsunsicherheit geschaffen hat (welcher – wie gezeigt – mit Vermutungstatbeständen nicht beizukommen ist), sondern dass sie sich mit grösster Wahrscheinlichkeit auch ansonsten volkswirtschaftlich schädlich auswirkt. Auch hier kann auf die Ausführungen von economiesuisse verwiesen werden (S. 22):
„Allerdings dürfte sich die umstrittene und zweifelhafte «Erweiterung» des Marktbeherrschungstatbestands auf wirtschaftliche Abhängigkeiten für alle Beteiligten bereits kontraproduktiv ausgewirkt haben. Muss ein Unternehmen befürchten, dass seine Lieferanten bei der WEKO auf bessere Lieferkonditionen (Preise, Mengen, Vertragsdauer usw.) klagen könnten, wenn es von diesen Lieferanten gewisse Bezugsmengen überschreitet, wird sich dieses Unternehmen bereits vor Vertragsschluss überlegen, welche Bezugsmengen sicherlich nicht überschritten werden dürfen, damit solche Klagen vermieden werden können. Oder aber es wird Drittbezug vermeiden, das heisst eine vertikale Integration angestrebt, selbst wenn diese nicht die betriebswirtschaftlich beste Lösung ist. Damit werden aber gerade diejenigen Unternehmen, die durch die Erweiterung von Art. 4 Abs. 2 KG geschützt werden sollten, letztlich bestraft. Die mit der Revision erfolgte Erweiterung von Art. 4 Abs. 2 KG würde somit wohl mit Vorteil zumindest für Tatbestände nach Art. 7 KG rückgängig gemacht.“
Nach Heizmann soll zudem vermutet werden, dass Unternehmen mit mehr als 40% Marktanteil marktbeherrschend sind (unter dieser Schwelle soll das Gegenteil vermutet werden).
Mehr Rechtssicherheit wird auch dies nicht zur Folge haben. Hauptfolge würde indessen sein, dass nach Einführung der Vermutung das vermutungsweise marktbeherrschende Unternehmen die objektive Beweislast zu tragen hätte (wie Heizmann zu Recht erwähnt). Im Zweifelsfall würde daher auf Marktbeherrschung erkannt.
Damit würden Interventionen in einem Bereich erleichtert, in welchem es anerkannt äusserst schwierig ist, zulässige (prokompetitive) von unzulässigen (antikompetitiven) Verhaltensweisen zu unterscheiden. Das Risiko von unberechtigten Staatseingriffen würde damit massiv erhöht.
Gerade in einem Bereich, in welchem die Rechtsunsicherheiten derart gross sind (auch hier sei wieder auf die Evaluation zum Kartellgesetz von economiesuisse verwiesen, S. 18 ff.) und – trotzdem – Sanktionen gesprochen werden, welche Hunderte von Millionen Franken betragen können, muss die Beweislast (subjektive und objektive) bei der Behörde liegen.
Wenn denn etwas im Gesetz klargestellt werden soll, dann dass die Beweislast zur Gänze bei der Behörde liegen muss.