Beat Zirlick et al. haben sich gefragt, ob denn Äpfel mit Birnen vergleichbar seien. In einem Aufsatz zur Marktabgrenzung sind sie dieser Frage am Beispiel eines Äpfelkartells nachgegangen und haben Folgendes herausgefunden: „Wenn es ein Preiskartell bezüglich Äpfel gibt, so ist zunächst die Marktgegenseite zu bestimmen. Dies sind die Apfelkäufer als die von der Wettbewerbsbeschränkung betroffene Marktgegenseite, und nur die Apfelkäufer. Einzig aus ihrer tatsächlichen und subjektiven Sicht stellt sich die Frage, ob Birnen Substitute sind.“
Soweit so gut. Ich frage mich bloss, ob es nach dem Gaba-Entscheid des Bundesgerichts, wonach Preiskartelle und andere, von Art. 5 Abs. 3 und 4 KG erfasste Abreden grundsätzlich erhebliche Wettbewerbsbeeinträchtigungen verursachen, überhaupt noch nötig ist, bei Vorliegen der erwähnten Abredeformen eine Marktabgrenzung vorzunehmen. Marktabgrenzungen werden ja regelmässig – aber überflüssiger- und oft irreführenderweise – gemacht, um das Feld abzustecken, worin der Wettbewerb spielt. Steht indes von vorneherein fest, dass eine bestimmte Abrede den Wettbewerb jedenfalls erheblich beeinträchtigt, dann erübrigt sich die Marktabgrenzung doch?
Kann überhaupt festgestellt werden, ob Äpfel mit Birnen austauschbar sind? Daran lässt sich zweifeln. Stellen wir uns vor, die WEKO frage die Apfelkäufer, ob für sie Birnen austauschbar seien, falls die Preise etwas steigen würden (also SSNIP-Test). Die Käufer sagen ja. Daraus schliesst die WEKO, dass Äpfel mit Birnen austauschbar sind. Tatsächlich? Das Äpfelkartell besteht bereits. Es hätte die Preise für Äpfel daher bereits angehoben. Einige ehemalige Apfelkäufer haben daher vielleicht bereits zu Birnen gewechselt; andere würden es bei einer weiteren Preiserhöhung, wonach der SSNIP-Test fragt, tun. Der SSNIP-Test ist bei Vergangenheitssachverhalten somit nicht anwendbar, denn er führt tendenzielle zu zu weiten Marktabgrenzungen (so genannte cellophane-fallacy). Er wurde auch für ex ante zu beurteilende Sachverhalte, konkret: die Zusammenschlusskontrolle, geschaffen. Zirlick et al. meinen vielleicht deshalb (allerdings ohne die cellophane-fallacy zu erwähnen), dass vom Preisniveau unter Wettbewerbsbedingungen auszugehen sei. Das scheint mir allerdings ein Zirkelschluss zu sein. Da die Marktabgrenzung letztlich dazu dient festzustellen, welche Wettbewerbsbedingungen bestehen, kann zwecks Feststellung der Marktabgrenzung nicht auf Bedingungen abgestellt werden, die festzustellen unter anderem Sache der Marktabgrenzung ist. Möglicherweise gelingt es aber festzustellen, ob die Apfelkäufer zum Zeitpunkt der Preiserhöhung, wenn es denn eine gab, zu Birnenkäufer geworden sind.
Da fragt sich gleich, ob denn alle Apfelkäufer zu Birnenkäufer hätten werden müssen oder ob es reicht, wenn ein Teil davon zu Birnenkäufern wird. Die Antwort lautet, dass so viele Apfelkäufer zu Birnenkäufer werden müssten, dass die Preiserhöhung für die am Äpfelkartell Beteiligten unprofitabel wird (theoretisch könnte das berechnet werden, wenn die Margen und Kostenverläufe bekannt wären). Letztlich soll festgestellt werden, ob die Abredebeteiligten den Wettbewerb überhaupt beschränken können. Das können sie nicht, wenn ihnen ihre Kunden bei einer Preiserhöhung oder anderen unerfreulichen Massnahmen davonlaufen. Preiserhöhungen, weil unprofitabel, könnten also nicht das Ziel der Abrede sein (oder die Kartellisten haben die Wettbewerbsverhältnisse falsch eingeschätzt).
Aber halt! Sind wirklich nur Birnen als mögliche Substitute zulässig? Ist nicht vielmehr massgebend, dass in genügender Anzahl ausgewichen wird, und viel weniger, wohin ausgewichen wird? Wenn von insgesamt 5 Apfelkunden einer nun Birnen kauft, ein anderer auf Bananen ausweicht und ein Dritter neu lieber Orangensaft trinkt, dann könnte eine Preiserhöhung doch auch deswegen unprofitabel sein. Zwar sind Birnen, Bananen und Orangensaft in diesem Fall sicherlich keine perfekten Substitute für Äpfel, aber die Ausweichbewegungen zu diesen Gütern reichen insgesamt aus, um eine Preiserhöhung für Äpfel unattraktiv zu machen. Gehören Birnen, Bananen und Orangensaft somit zum relevanten Markt? Oder ist diese Frage letztlich überhaupt relevant?
Schwierig scheint mir auch die Sache mit der Marktgegenseite. Laut Zirlick et al. muss zuerst die betroffene Marktgegenseite bestimmt werden. Wird angenommen, die Kartellisten würden ihre Äpfel direkt den Endkunden verkaufen, dann ist Marktgegenseite der Endkunde. Schiebt sich zwischen Kartellist und Endkunde ein oder mehrere Verteiler, dann wären nach Zirlick et al. wohl die Verteiler Marktgegenseite. Macht das Sinn? Angenommen, der Endkunde kann Äpfel bei mehreren Verteilern einkaufen, wobei diese Verteiler teilweise auch von anderen Produzenten als den Kartellisten beliefert werden. Würden die Kartellisten die Preise für ihre Äpfel erhöhen und ihre Verteiler diese Preiserhöhung an die Endkunden weitergeben, dann ist zu vermuten, dass die Endkunden zu Verteilern wechseln würden, welche von den nicht kartellisierten Produzenten beliefert würden. Für die Kartellisten und deren Verteiler wäre die Preiserhöhung also ein Verlustgeschäft. Massgebend dafür, ob eine Preiserhöhung oder andere Massnahme Erfolg hat, sind also letztlich die Bewegungen des Endkunden. Das Verhalten jeder Stufe der Wertschöpfungskette (Produktion, Handel, Verteilung) ist somit vom Verhalten der Endkunden abhängig. Deshalb müssten die Wettbewerbsverhältnisse auch immer aus der Sicht des Endkunden beurteilt werden.
Der Begriff „Marktgegenseite“ findet sich denn auch weder in den Leitlinien der EU noch jenen der USA. Die Merger Guidelines der USA sprechen von „customer“, die Bekanntmachung der EU zum relevanten Markt von „Verbraucher“ und zumindest an zwei Stellen von „Endverbraucher“.
Die Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen sollte Sinn und Zweck der Marktabgrenzung möglichst bald präzisieren. Dabei wäre es lohnenswert, einen Blick auf Seiten 7ff. der Merger Guidelines der USA zu werfen. Zwar enthalten diese Leitlinien nach wie vor viel zur Marktabgrenzung. Die praktische Relevanz dieses Analyseschrittes verliert in den USA indessen immer mehr an Bedeutung. Ich wage die Voraussage, dass die EU folgen wird, sobald sie ihre Bekanntmachung zum relevanten Markt überarbeiten wird. Die Schweiz hätte die Gelegenheit vorauszugehen.