http://www.bger.ch/press-news-2c_180_2014-t.pdf
Das Bundesgericht hat Folgendes entschieden: Abreden, welche unter einen Vermutungstatbestand von Art. 5 Abs. 3 oder 4 KG fallen sind „grundsätzlich“ unzulässig, es sei denn
- die Vermutung der Wettbewerbsbeseitigung kann widerlegt werden; und (kumulativ)
- die an der Abrede beteiligten Unternehmen können den Effizienznachweis für die Zulässigkeit der Abrede erbringen (dafür tragen sie die Beweislast).
Einzig bei absoluten Bagatellen scheint die obsiegende Mehrheit der Bundesrichter der WEKO ein gewisses Ermessen (im Sinne des Opportunitätsprinzips?) einzuräumen, diese Fälle gar nicht erst aufzugreifen. Vor den Zivilgerichten würde eine so verstandene Bagatellklausel aber wohl nicht greifen. Zivilrichter können sich im Gegensatz zu Behörden nicht auf das Opportunitätsprinzip berufen.
Auch Kleinstunternehmen mit minimalen Marktanteilen müssen sich neu mit dem Kartellgesetz in der notwendigen Tiefe auseinandersetzen. Diese verfügen aber im Regelfall nicht über die nötigen Mittel oder das erforderliche Know-how für eine effektive Kartellrechtscompliance. Ein Bundesrichter hat sich an der heutigen Beratung auf den Standpunkt gestellt, die von den Unternehmen zu befolgenden Regeln seien klar und einfach. Als beratender Anwalt habe ich leider die gegenteilige Erfahrung machen müssen: Sobald es bspw. um die Beurteilung eines Informationsaustausches, einer Einkaufsgemeinschaft, einer ARGE-Bildung, einer Preisempfehlung geht, steht man plötzlich wieder vor einem bunten Strauss an nicht geklärten Rechtsfragen. Wann liegt in einer solchen Situationen eine Abrede vor, welche unter einen Vermutungstatbestand von Art. 5 Abs. 3 oder 4 KG zu subsumieren ist? Auch das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht werden sich in den kommenden Jahren mit diesen Fragen zur Auslegung der Vermutungstatbestände auseinandersetzen müssen. Bspw. im Fall betr. Buchhandel Romandie oder im Badezimmerfall.
Das Kartellgesetz ist jetzt schärfer als es der Bundesrat in der gescheiterten Revision mit dem sog. Teilkartellverbot vorgeschlagen hat. Der Nationalrat ist aber unter anderem deshalb auf die Revision nicht eingetreten, weil er diese Verschärfung nicht wollte. Diese Problematik wurde an der heutigen Beratung nicht thematisiert. Ebenfalls nicht zum Ausdruck gekommen ist der Umstand, dass die obsiegende Mehrheit der Bundesrichter eine Praxisänderung zum Bücherfall beschlossen hat (BGE 129 II 18 E. 5.2.2)
Die Anwältinnen und Anwälte können sich über den anstehenden Beratungsbedarf freuen. Die Unternehmen weniger. Mit anderen Worten: Die heute geschaffene Rechtslage ist „anwaltsfreundlich“ und „industriefeindlich“.
Und was passiert mit Verhaltensweisen, welche in einer Vorabklärung des Sekretariats der WEKO mangels quantitativer Erheblichkeit als noch gerade zulässig beurteilt wurden? Werden diese Verfahren neu aufgerollt?
Und wie würde das Bundesgericht wohl den folgenden Fall beurteilen, welcher dem OLG Celle vorlag? http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod?feed=bsnd-r-og&showdoccase=1¶mfromHL=true&doc.id=KORE211182016
Hier ging es um eine vertikale Mindestpreisabrede im Sinne von Art. 5 Abs. 4 KG, wobei ein Hersteller eines Diätprodukts in Deutschland bundesweit den Apotheken einen Rabatt von 30% auf maximal 90 Dosen gewährte, sofern sie diese Dosen nicht unter einem Wiedeverkaufpreis von EUR 15.95 verkauften. Der Hersteller dieses Produkts verfügt in Deutschland offenbar über einen beträchtlichen Marktanteil (20% oder mehr). Das OLG Celle hat diese Abrede mangels Spürbarkeit als zulässig qualifiziert. Würde hier das Bundesgericht eine Ausnahme von der „grundsätzlichen“ Erheblichkeit machen?