Eigentlich sollte Konsens darüber bestehen, dass Hersteller und Händler besser als die Behörden wissen, wie sie ihre Ware möglichst effizient an den Kunden bringen, insbesondere wenn sie der Wettbewerb zu effizienten Vertriebsformen zwingt. Weit gefehlt, denn die Wettbewerbsbehörden im EWR und in der Schweiz meinen Hersteller und Händler zum Vertrieb via Internet zwingen zu müssen.
Internetvertriebsverbote sind quasi per se unzulässige Wettbewerbsbeschränkungen. Das Bundeskartellamt fragt sich in einem Hintergrundpapier zur Überarbeitung der Gruppenfreistellungsverordnung zu vertikalen Vereinbarungen (Vertikal-GVO) sogar, ob faktische Internetvertriebsverbote als Kernbeschränkung in die Vertikal-GVO aufgenommen werden sollten. Mir scheint, dass die Frage ganz anders lauten müsste, nämlich, ob Internetvertriebsverbote in aller Regel zulässig sein sollten, denn – wie das BKartA im selben Papier zu Recht schreibt – hat die Digitalökonomie einen Wandel des Vertriebs, neue Anbieter und neue Vertragsformen gebracht. Dieser Wandel stellt m.E. die kartellrechtlich heute wichtige Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Verkäufen in Frage.
Ein Vertreiber wird aufwändige Werbe- und andere Marketingmassnahmen nur machen, wenn sich diese Investitionen für ihn auszahlen. Deshalb wird in Vertriebsverträgen etwa vereinbart, dass der Vertreiber ein bestimmtes Gebiet exklusiv bedienen darf. Er wirbt dann in diesem Gebiet und kann sicher sein, dass seine Werbemassnahmen nur ihm und keinem Konkurrenten zugute kommen. Aktive Verkäufe, also Werbe- und andere Marketingmassnahmen in dem ihm zugewiesenen Gebiet durch andere Vertreiber, können im Vertriebsvertrag untersagt sein. Das ist in der Regel kartellrechtlich zulässig. Nicht zulässig ist hingegen ein Verbot passiver Verkäufe. Ein passiver Verkauf liegt vor, wenn ein Kunde, der in Gebiet A wohnt, lieber in Gebiet B einkauft, d.h. die Initiative geht vom Kunden aus, nicht vom gebietsfremden Händler. Der Händler in Gebiet B darf den Kunden zudem nicht an den Händler in Gebiet A verweisen, denn „Parallelhandel“ muss nach Auffassung der EU möglich bleiben. Internetverkäufe gelten gemäss EU-Rechtsprechung als Passivverkäufe.
Damit sich Werbemassnahmen trotz möglicher Passivverkäufe noch lohnen, dürfen Passivverkäufe bloss in relativ wenigen Fällen vorkommen. Denn wer würde ein bestimmtes Produkt in Gebiet A mit grossem Aufwand bewerben, wenn dann trotzdem alle Kunden zu Händlern in anderen Gebieten einkaufen gehen?
Die Annahme, dass Passivverkäufte relativ selten sind, war in der vordigitalen Welt vermutlich berechtigt, denn ein Kunde musste sich ja physisch von seinem Wohnort in Gebiet A ins Gebiet B verschieben und damit einen gewissen Aufwand auf sich nehmen. In der digitalen Welt dagegen, in welcher sozusagen von jedem Ort der Welt auf jeden anderen Ort der Welt zugegriffen werden kann, ist diese Annahme nicht mehr gerechtfertigt. Der Kunde im Gebiet des Händlers A interessiert sich wegen der Werbung, welche A finanziert, für ein bestimmtes Produkt. Danach sitzt er an den Computer und vergleicht die Konditionen aller Händler, welche dasselbe Produkt in ihrem Angebot führen. Sind die Konditionen nicht überall dieselben – in diesem Fall würde die Behörde wohl ein unzulässiges Preiskartell oder unzulässige Preisvorgaben des Herstellers vermuten -, dann wird der Kunde via Internet beim Händler mit den günstigsten Konditionen einkaufen. Somit dürften Passivverkäufe in der digitalen Welt viel häufiger als in der vordigitalen Welt sein. Ein Händler kann sich deshalb nicht mehr sicher sein, dass seine Werbe- und anderen Marketingmassnahmen bloss ihm und nicht auch allen anderen Händlern zugute kommen.
Das BKartA sollte sich also fragen, ob die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Verkäufen in der digitalen Welt noch zu rechtfertigen ist. Aber sicherlich nicht, ob der Internetvertrieb sozusagen zum Zwangsvertriebskanal erklärt werden sollte.