Die Schaffung eines Bundeswettbewerbsgerichts als Entscheidorgan in kartellgesetzlichen Verfahren mit einer davon unabhängig instruierenden und Antrag stellenden Wettbewerbsbehörde ist das gewichtigste Reformvorhaben, das der Bundesrat anlässlich der Vernehmlassung zur KG-Revision vorgeschlagen hat.
Die bisherige Diskussion über die KG-Revision hat gezeigt, dass institutionelle Verbesserungen bei den erstinstanzlichen Wettbewerbsbehörden unbestritten sind. Hingegen teilen nicht alle die Meinung des Bundesrates, dass es für den Vollzug des Kartellgesetzes eine Gerichtsorganisation braucht. Alternativ wird etwa auch vorgeschlagen, das heutige Sekretariat und die Kommission zu einer schlagkräftigen Wettbewerbsbehörde zusammenzuführen, welche Verfahren instruiert und in erster Instanz entscheidet (vgl. etwa Rizvi/Babey „Braucht die Schweiz ein Bundeswettbewerbsgericht“ AJP 12/2010 S. 1585). Eine solche Behördenorganisation dürfte aus rechtsstaatlicher Sicht nur bei objektivierbaren Verwaltungshandlungen, bei denen praktisch kein Ermessen und keine Beurteilungsspielräume gegeben sind, unproblematisch sein. Unter solchen Umständen basieren Verwaltungsentscheide auf eindeutig bestimmten Kriterien, die objektiv gesehen entweder erfüllt sind oder nicht. Materielle Entscheide im Wettbewerbsrecht (mit Ausnahme der Bestimmung über die Meldepflicht von Zusammenschlussvorhaben) zeichnen sich dagegen regelmässig durch Ermessen und grosse Beurteilungsspielräume aus. Die kartellgesetzlichen Rechtsbegriffe wie „erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs“, „marktbeherrschende Stellung“, „Diskriminierung“, „unangemessene Preise“ etc. sind weder objektiv noch eindeutig bestimmbar. Selbst nach bald 15 Jahren existiert zudem keine Praxis, die das Ermessen und die Beurteilungsspielräume bei diesen Rechtsbegriffen einschränken würde.
Kartellgesetzliche Verfügungen können nicht nur wegen allfälliger direkter Sanktionen sondern auch im Zusammenhang mit Entscheiden über Zusammenschlussvorhaben schwerwiegende Eingriffe in die Stellung der betroffenen Unternehmen nach sich ziehen. In einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung erfordern solche Eingriffe eine nachvollziehbare Begründung mit einer stichhaltigen Beweisführung. Hierzu gehört, dass die Angeklagten (oder die Angeklagte) das Recht haben, mit gleich langen Spiessen wie der Ankläger, ihre Sicht der Dinge vor dem Entscheidträger darzulegen. Aus institutioneller Sicht verletzt die heutige Behördenorganisation dieses Erfordernis: Die Sicht der Angeklagten wird durch die verfahrensführende Behörde, die faktisch der Ankläger ist, gefiltert. Der Verfahrensführer ist dementsprechend nicht etwa neutral sondern er ist – wie ein Staatsanwalt – Partei. In seiner Rolle plädiert er für die „Anliegen des Wettbewerbs“, welche aus seiner Sicht in aller Regel eine Intervention (und allenfalls eine Sanktion) erfordern. Andernfalls würde gar kein Verfahren geführt. In dieser Konstellation ist der Anreiz des Anklägers, sich mit den (Gegen)argumenten der Beklagten gleich sorgfältig auseinander zu setzen wie mit den eigenen, vermutlich nicht gegeben. Trifft dies tatsächlich zu, werden die Argumente der Beklagten in KG-Verfahren systematisch zu wenig angemessen gewürdigt. Diese systembedingte Asymmetrie verstärkt sich, wenn die anklagende Behörde gleichzeitig über die Entscheidbefugnis verfügt, wie von Rizvi und Babey vorschlagen. Dies, weil in dieser Konstellation die anklagende Behörde in der ersten Instanz faktisch niemandem Rechenschaft schuldig ist.
Gerade bei schwer objektivierbaren Rechtsbegriffen, die grosse Beurteilungsspielräume eröffnen und schwerwiegende Eingriffe nach sich ziehen können, müssen Ankläger und Beklagte einen gleichberechtigten Zugang zur Entscheidbehörde haben (vgl. Schindler, Benjamin Verwaltungsermessen – Gestaltungskompetenzen der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz. Dike Verlag 2010). Aus institutioneller Sicht braucht es daher eine unabhängige (professionelle) Entscheidbehörde und ein kontradiktorisches Verfahren, so wie es der Bundesrat in der Vernehmlassung vorgeschlagen hat. Selbst wenn erstinstanzliche Entscheide weitergezogen werden können, vermag das Beschwerdeverfahren die institutionelle Unzulänglichkeit einer asymmetrischen Auseinandersetzung mit Argumenten und Gegenargumenten nicht zu heilen. Denn die Hürde, erstinstanzliche Verfahren aus materiellen Gründen umzustossen, ist viel höher, als materiell auf ein erstinstanzliches Verfahren einzuwirken (vgl. etwa Feller/Müller Die Prüfungszuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts ZBl 110 (2009), S. 442-464).