
Kartellrechtliche Panik vor dem Digitalen ist unangebracht. Es braucht auch hier ein Wettbewerbsrecht, das bei Missbräuchen eingreift.
von Henrique Schneider
Publiziert in FuW online am 16. November 2022
Wie bei vielem, was man nicht kennt, wird bei der Digitalisierung sofort nach Regulierung verlangt. Die Europäische Union EU sieht sich sogar bemüssigt, das Wettbewerbsrecht dem Digitalen anzupassen. Das ist keine gute Idee. Drei Thesen dazu.
These 1: Digitalisierung ist nichts Neues – Unternehmertum auch nicht.
Digitalisierung oder digitale Transformation sind Prozesse, die sich schon lange auf die Wirtschaft auswirken. Die Wirtschaft selbst beeinflusst diese Prozesse. Digitalisierung ist die (Er-)Findung neuer Produkte, neuer Kanäle und neuer Prozesse. Damit ist sie eigentlich nichts anderes als andere Techniken der Wertschöpfung, die immer wieder neu aufkommen. Beispiele dazu sind Make or Buy, Six Sigma, Prozessmanagement oder Konzernkostenrechnung.
Es ist immer Sache des einzelnen Unternehmens, ob, wann und wie darauf einzusteigen ist. Dabei ist es gar nicht notwendig, auf alle Techniken einzusteigen. Zugegeben: Es wird schwierig sein, sich der Digitalisierung zu entziehen. Aber genauso schwierig ist es, kein Make or Buy zu machen. Und selbst wenn Unternehmen auch nur auf Entwicklungen und neueren Techniken des Managements reagieren, ist es immer noch an ihnen, herauszufinden, wie und wann.
Freilich gibt es Unternehmen – wohl die Mehrheit –, die im Digitalen eine Chance sehen. Chance heisst: Das Digitale kann zu neuen Produkten, neuen Kanälen oder neuen Organisationsformen führen. Jede Chance wird aber individuell, also von jedem einzelnen Unternehmen nach Massgabe seiner subjektiven Abwägung, ergriffen. Chance bedeutet, dass es immer auch ein Risiko gibt, dass es nicht funktioniert.
Unternehmertum bleibt Unternehmertum
Was bedeutet das alles für das Wettbewerbsrecht? Wirtschaftliche Betätigung ist dispers. Sie ist das Resultat der situationalen, individuellen und subjektiven Entscheidung des Unternehmens. Sie gehorcht nicht irgendwelchen Gesetzen, schon gar keinen, die ex ante postuliert werden. Wenn sich Häufungen ergeben, sind es eben dies, empirische Häufungen von bestimmten Verhaltensweisen und weder Gesetze noch Archetypen. Genau deswegen ist das Wettbewerbsrecht keine Ex-ante-Regulierung. Es räumt Probleme auf, die sich aus der Drittpersonperspektive erst ex post feststellen lassen.
Die Digitalisierung ändert nichts am Unternehmertum und deshalb auch nichts an der Wettbewerbsordnung.
These 2: Das Wettbewerbsrecht wäre gut gewappnet, um mit der Digitalisierung umzugehen.
Die Wettbewerbsordnung besteht aus drei Pfeilern, dem Verbot einiger Absprachen, dem Umgang mit dem Missbrauch von Marktmacht und der kartellrechtlichen Fusionskontrolle. Diese Pfeiler sind neutral bezüglich ihrer Anwendungsfälle. Das ist eine Stärke, denn damit ist die Wettbewerbsordnung grundsätzlich auf alle Formen des marktlichen Austauschs anwendbar.
«Die Wettbewerbskommission und die Gerichte wenden das Kartellgesetz falsch an.»
Wirtschaftliche Betätigung ist dispers; so ist auch die Digitalisierung. Ein Unternehmen mag damit neue Produkte machen, etwa eine App; ein anderes kann ein bestehendes Produkt erweitern, etwa mit Datenbewirtschaftung. Andere Unternehmen wenden wiederum das Digitale als Verkaufskanal an, und noch andere wenden das Digitale an, um Arbeit zu organisieren, etwa Supply Chains diversifizieren, Personal rekrutieren und so weiter. Gerade die Dispersion der Verwendungsformen des Digitalen erfordert eine anwendungsneutrale Gesetzgebung, die sich der Varianz und der Dynamik der Wirtschaft anpassen kann. Mit dem Kartellgesetz hätte die Schweiz eine geeignete gesetzliche Grundlage.
Den Einzelfall prüfen
«Hätte» ist dabei der richtige Operator. In Wirklichkeit «hat» die Schweiz es nicht, denn die Wettbewerbskommission Weko und die Gerichte wenden das Kartellgesetz falsch an. Es ist bekannt, dass mit der Fiktion der Per-se-Erheblichkeit Bundesverwaltungsgericht und Bundesgericht das Kartellgesetz geändert haben und die ökonomische Abwägung insgesamt haben fallen lassen. Dass die Weko diese Fiktion extensiv anwendet, kann nicht überraschen. Auf jeden Fall geht die Auseinandersetzung mit der Ökonomik des einzelnen Falles verloren. Die gleiche Auseinandersetzung geht ebenso verloren in Fällen von präsumptivem Missbrauch der Marktmacht. Es ist selten, dass sich die Weko in diesen Entscheiden mit dem unternehmerischen Tun der Marktbeherrscher oder der -beherrschten auseinandersetzt.
Die Instrumente des geltenden Wettbewerbsrechts können nur richtigerweise angewendet werden, wenn das Besondere der wirtschaftlichen Betätigung, die Ökonomik des einzelnen Falles nach Massgabe des einzelnen Falles stets berücksichtigt wird.
These 3: Spezifisch digitale Instrumente sind schädlich.
Gerade weil die unternehmerische Betätigung dispers ist und gerade weil ein anwendungsneutrales Wettbewerbsrecht funktioniert, sind digitalspezifische Instrumente schädlich. Sie werden weder der Unterschiedlichkeit des Unternehmertums noch der eigentlich unüberblickbaren Einsatzmöglichkeiten des Digitalen gerecht. Stattdessen schaffen sie Diffusionsbarrieren. Sie wirken sich als Hemmnis der Digitalisierung aus.
Man nehme als abschreckendes Beispiel den Digital Markets Act DMA der EU. Darin versteift sich die Europäische Kommission in der Aussage, dass es digitale Märkte gibt. Das ist offensichtlich absurd, vor allem, weil die Beispiele, die sie selbst für solche Märkte gibt, uneinheitlich sind. Einerseits behandelt sie das Digitale als ein Gut, andererseits, auf der gleichen Seite ihrer Erklärung, als Kanal. Die Kommission meint, etwas regulieren zu können, was sie nicht verstanden hat.
Ex post, nicht ex ante
Die Europäische Kommission hat sich die Regulierung einfallen lassen, weil sie immer wieder Fälle gegen Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft verliert. Doch: Dass die Kommission Fälle vor den Gerichten verliert, ist eine offensichtliche Stärke des EU-Kartellrechts. Es wäre kurios, wenn die Kommission nur Fälle gewinnen würde. Da müsste man vermuten, dass die Unternehmen gar keine Rechte hätten. Wenn die Kommission Fälle verliert, bedeutet das nur, dass die Geschäftspraxen dieser Unternehmen kartellrechtskonform sind. Eine Kommission, die Fälle immer gewinnt, gibt es nur in den unterentwickeltsten aller Diktaturen – und in der Schweiz.
Die DMA ist auch noch deswegen schädlich, weil sie Kartellrecht und Regulierung vermischt. Unternehmerische Handlungen können, wenn überhaupt, von Drittpersonen erst ex post beurteilt werden. Deshalb greift auch das Wettbewerbsrecht ex post. Wenn es nun für einigen Unternehmen Wettbewerbsregelungen geben sollte, die ex ante greifen, dann hat das nichts mehr mit Unternehmertum, Märkten und Wettbewerb zu tun.
Man sollte keine kartellrechtliche Panik vor dem Digitalen haben. Man sollte auch keine strukturwirtschaftliche Euphorie an den Tag legen. Digitalisierung hängt, wie alle Managementtechniken, von den unternehmerisch Handelnden ab. Sie handeln situational, individuell und subjektiv. Was es braucht, ist ein Wettbewerbsrecht, das bei Missbräuchen eingreift – on- und offline.