Corona und Wettbewerb

Im Kampf gegen Corona bemüht sich die Politik, das Wissen zu fördern, um bessere Entscheide zu fällen. In der Schweizer Wettbewerbspolitik dagegen wird vorhandenes Wissen mit Absicht missachtet.

Seit Wochen werden die Medien vom Thema Corona beherrscht. Man erinnert sich an Karl Valentin, der gesagt haben soll, es sei schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem. Die Leser wissen von Corona und Coronapolitik wohl inzwischen, was es zu wissen gibt – einschliesslich der Tatsache, dass dies für viele Fragen noch zu wenig ist. Hingegen dürfte das Leserwissen über Wettbewerb und Wettbewerbspolitik seit der 2014 gescheiterten Kartellgesetzrevision ausgebleicht sein. Ich möchte deshalb hier versuchen, die Wettbewerbspolitik mit der Coronapolitik zu assoziieren. Wir hoffen ja, dass der Lockdown bald aufgehoben werden kann, sich die Wirtschaft möglichst rasch erholt (V-förmiger Verlauf) und dann auch das Wissen über Wettbewerb und Wettbewerbspolitik wieder einen höheren Stellenwert erlangt.

Mit dem Lockdown sind das Kartellgesetz und sein Vollzug selbst­verständlich nicht ausgesetzt worden. Die Wettbewerbskommission (Weko) hat bereits Ende März, kurz nach ­Verhängung des Lockdown, in einer Medienmitteilung mit seltsamem Unterton verlauten lassen, sie wache auch während der Krise über die ­Einhaltung des Kartellrechts und verhindere Kartellrechtsverstösse; sie ­toleriere nicht, dass Unternehmen die Krise für Wettbewerbsbeschränkungen ausnützten. Nur wenn Regierung und Behörden Massnahmen zur Bekämpfung der Krise anordneten, die den Wettbewerb einschränkten, sei das Kartellrecht nicht anwendbar. Angesichts der in aller Regel Monate bis Jahre dauernden Kartellrechtsverfahren kann diese Warnung bestenfalls präventive Wirkung entfalten.

Weko differenziert zu wenig

Differenzierter und klar nützlicher äussern sich Kartellrechtsanwälte in der Wirtschaftspresse und der Fachliteratur oder informieren ihre Kunden direkt über die eventuelle Notwendigkeit und Zulässigkeit von Kooperationen in der Krise, die unter normalen Umständen kartellrechtlich fragwürdig sein könnten und nach der Krise einzustellen wären. Man kann sich gut vorstellen, dass im Lockdown, diesem noch nie dagewesenen angebots- und nachfrageseitigen Doppelschock, bestimmte vertikale und horizontale Kooperationen nötig sein könnten, um das Überleben von zwei oder mehr Kooperationspartnern im Markt zu ermöglichen.

«Der Politik geht es meist nicht um Wettbewerb, sondern um die Beschäftigung.»

Kooperationen, durch die Konkurse vermieden werden können, mögen den Wettbewerb auf kurze Sicht ­beeinträchtigen, werden ihn jedoch auf längere Sicht aufrechterhalten, wenn nicht sogar intensivieren. Wenn Wettbewerbsbehörden solche Kooperationen unter­sagen, machen sie offensichtlich einen argen Fehler. ­Gefährdete Unternehmen sollten sich von guten An­wälten beraten lassen, statt – eingeschüchtert von einer zu wenig differenzierenden Weko – die Flinte ins Korn zu schmeissen.

Ein aktuelles Positionspapier von Zürcher Ökonomen (Department of Economics der Uni Zürich) befasst sich weniger mit dieser kooperativen Selbsthilfe als mit staatlichen Hilfsmassnahmen. Natürlich können staatliche Corona­hilfen nötig und nützlich sein, um Unternehmen und Märkte im Lockdown und für die Zeit danach am Leben zu erhalten. Hierbei geht es der Politik aber meistens nicht um Wettbewerb, sondern um die Beschäftigung. Doch besonders wenn entsprechende Hilfen lange umgesetzt werden müssten, dürfte damit der Wettbewerb erheblich verzerrt werden. Die Weko müsste sich intensiv mit dieser Problematik befassen, von der vermutlich derzeit die grössere Gefahr für den Wettbewerb ausgeht als von Abreden, Marktmachtmissbrauch und Fusionen. Bei staatlichen Beihilfen ergibt sich auch die Gefahr ineffizienter Strukturerhaltung oder – schlimmer – ­ineffizienten Strukturaufbaus (Vorsicht ist z. B. im Gesundheitswesen geboten). Als zu­sätzlich schädliche Nebenwirkung wäre mit protek­tionistischen Massnahmen zu rechnen, ohne die sich ineffiziente Strukturen ja nicht lange halten könnten.

Kehren wir aber zur Ursache der Krise zurück. Weil einerseits bei den ersten Anzeichen einer Pandemie und ihrer Ausweitung auf die Schweiz  wegen ungenügender Diagnosemittel und -möglichkeiten niemand wissen konnte, wer tatsächlich an Covid-19 erkrankt und somit Überträger dieser Krankheit war, konnten die Kranken nicht in Quarantäne geschickt werden, um die Gesunden vor Ansteckung zu schützen. Weil andererseits unbekannt war, ob und wie stark Covid-19 lebensbedrohend ist, deklarierte der Bundesrat vorsichtshalber den Notstand und schickte fast alle in Quarantäne (mit Ausnahmen, die numerisch nicht sehr ins Gewicht fallen). Doch inzwischen zeichnet sich immer klarer ab, dass der damit verbundene Stillstand von Wirtschaft und ­Gesellschaft sowie die Isolation von Menschen mehr oder weniger direkt auch lebensbedrohend sind.

Weitere Erörterungen dazu sind im Sinne von Karl Valentin kaum nötig – hingegen soll ein weiterer Bezug zur Wettbewerbspolitik hergestellt werden. Der Verlauf von Grippe (Influenza) ist statistisch bekannt, ebenso ihr Gefährdungspotenzial. Es gibt wirksame Schutzmassnahmen (Impfungen). Epidemiologisches und medizinisches Wissen ist es, das optimale Massnahmen ­erlaubt und vor Fehlentscheidungen schützt. Es muss nicht das ganze Volk in Quarantäne verbannt werden, Wirtschaft und Gesellschaft laufen mit geringen ­Be­einträchtigungen voll weiter. Die Medizinalbehörden haben alles im Griff.

Und die Wettbewerbsbehörden? Mit dem Entscheid Gaba/Elmex vom 28. Juni 2016 hat das Bundesgericht festgelegt, dass für eine ganze Reihe von horizontalen und vertikalen Abreden ihre Auswirkungen in den Märkten gar nicht geprüft werden müssen. Diese Abreden müssen also heute im Regelfall als schädlich betrachtet werden, obwohl die Wettbewerbsökonomie zeigt, dass dies nur unter gewissen Umständen effektiv zutrifft, unter anderen Umständen jedoch nicht. Sozusagen «ab in die Quarantäne!» – nicht aus Vorsicht, sondern weil man überhaupt nicht mehr wissen will oder darf, ob diese Massnahme nötig ist. Empirisch sind damit rund 50% Fehlentscheide zu erwarten.

Hohe Fehlerquote

Von diesem fatalen Dogma liess sich offenbar das ­Bundesverwaltungsgericht beeinflussen, indem es im Entscheid DCC SIX vom 21. Mai 2019 in ähnlich apo­diktischer Weise festlegte, dass auch die effektiven ­kompetitiven Auswirkungen gewisser Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen nicht mehr geprüft werden sollen. Also (ALSN 206.5 -0.24%) auch «ab in die Quarantäne!», ob ­effektiv schädlich oder nicht. Hier dürfte die Fehlerquote noch höher als 50% liegen. Dieser Entscheid ist immerhin noch nicht rechtskräftig.

Gaba/Elmex ist für die Weko verbindlich, an DCC SIX wird sie sich orientieren müssen, solange das Bundes­gericht diesen Entscheid nicht widerruft. Das sind zwei extrem wichtige Entscheide, die dem Missbrauchs­gedanken im schweizerischen Wettbewerbsrecht laut Verfassung widersprechen. Nur das Bundesgericht oder das Parlament (bei der anlaufenden nächsten Gesetzesrevision) können diese Fehlentscheide noch korrigieren. Soweit bis jetzt ersichtlich ist, sind solche Korrekturen in der Revision aber nicht vorgesehen.

Parallel dazu stehen die Hochpreisinselinitiative (Fair-Preis-Initiative) und ein indirekter Gegenvorschlag zum Entscheid an, die beide weitere Schritte zur Aushebelung der ökonomischen Analyse enthalten. Während also bei Corona jetzt alles unternommen wird, um das für optimale Entscheide nötige epidemiologische und medizinische Wissen zu generieren, ist die Wett­bewerbspolitik gerade daran, das nötige ökonomische Wissen aus ihren Erwägungen auszuschliessen.

Dieser Beitrag wurde in der «Finanz und Wirtschaft» vom 6. Mai 2020 als Leitartikel publiziert.


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