Im kürzlich publizierten Entscheid Vifor Pharma/HCI Solutions (2C_244/2022 vom 23. Januar 2025) konkretisiert das Bundesgericht die Anforderungen an die Missbrauchskontrolle von Art. 7 KG im Sinne eines wirkungsbasierten Ansatzes. Das ist schon fast eine Sensation!
Damit „präzisiere“ es – so das Bundesgericht im Entscheid wörtlich – den umstrittenen Leitentscheid Six/DCC (2C_596/2019 vom 2. November 2022; vgl. dazu in Simon Hirsbrunner in diesem Blog: SIX/DCC – ein Urteil des Bundesgerichts zur Marktbeherrschung gibt zu reden).
Zusammen mit dem Gaba-Urteil (143 II 297; vgl. dazu Daniel Emch in diesem Blog: Das Konzept der grundsätzlichen Erheblichkeit gemäss Gaba-Urteil des Bundesgerichts) ist Six/DCC ein wichtiger Gegenstand der laufenden KG-Teilrevision. Mit Gaba für „harte“ Abreden und mit Six für die Marktmachtmissbrauchskontrolle haben die Wettbewerbsbehörden eine formalistische Praxis eingeschlagen, die von den konkreten Umständen der fraglichen Tatbestände fast vollständig abstrahiert und deren Erheblichkeit und Schädlichkeit im Regelfall behauptet statt plausibel darlegt oder gar nachweist. Ökonomisch ist klar, dass diese Praxis zu vielen Fehlurteilen und zu entsprechenden volkswirtschaftlichen und sozialen Schäden führt. Das Parlament wollte dieser schädlichen Praxis mit Ergänzungen im Kartellgesetz einen Riegel schieben, doch ist dieses Ansinnen im Ständerat – meines Erachtens aufgrund einer sehr fragwürdigen Einflussnahme des SECO und v.a. der WEKO-Präsidentin – vorerst gescheitert (vgl. meinen Beitrag in diesem Blog: Missratene Kartellgesetzdebatte im Ständerat).
In diesem Umfeld fällte das Bundesgericht also das Vifor/HCI-Urteil, das bei genauer Betrachtung Six/DCC nicht „präzisiert“, sondern widerruft. Leider erfolgte aber diese „freiwillige Praxisänderung des Bundesgerichts“ erst nach der enttäuschenden „Nullnummer“ des Ständerats vom 11. Juni 2024. In Kenntnis des Meinungsumschwungs im Bundesgericht hätte der Ständerat wohl anders entschieden. In der kommenden Sommersession hat jetzt der Nationalrat die Gelegenheit, seiner Kommission zu folgen und nicht nur die Six-, sondern analog und dringend notwendigerweise ebenfalls die Gaba-Praxis per Gesetz zu „widerrufen“.
Nebenbei gesagt, bin ich gespannt auf die Argumentation der WEKO-Präsidentin nach dem Vifor/HCI-Urteil … will nun auch noch das Bundesgericht das Kartellgesetz schwächen, wie es Frau Baudenbacher den Gegnern des formalistischen Ansatzes stets unterstellt?
Hinweise
(1) Anfang Mai schrieb Economiesuisse ein kurzes Positionspapier zum Vifor/HCI-Urteil – davon das Wichtigste in Kürze:
- Das Bundesgericht passt seine Praxis zur Missbrauchskontrolle an und bestätigt damit die grosse Kritik der Wirtschaft an der bisherigen Praxis – ein wichtiger Schritt.
- Der Handlungsbedarf des Gesetzgebers bleibt trotz dieses Urteils bestehen – die Praxis des Bundesgerichts muss klar im Gesetz verankert werden, damit die Unternehmen ausreichend Rechtssicherheit haben.
- Der Nationalrat muss auf Basis der Arbeiten seiner vorberatenden Kommission im Sommer nun die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen.
Lesen Sie hier das Papier von Economiesuisse: Wichtiges Signal des Bundesgerichts für den Gesetzgeber
Den von mir rot markierten Punkt kann man nicht genügend betonen!
(2) Vor kurzen wurden die beiden interessanten Beiträge von renommierten Kartellrechtlern publik:
- Bundesgerichtsurteil Vifor/HCI Solutions: Art. 7 Abs. 2 KG begründet keinen Gefährdungstatbestand
(Marcel Meinhard, Jannick Koller, Lorenz von Arx – Lenz und Staehelin) - Schweizer Bundesgericht erhöht Anforderungen an Nachweis der Wettbewerbsschädigung bei Marktbeherrschungsmissbrauch
(Mani Reinert – Bär und Karrer Briefing)
(3) Die Medien scheinen von diesen Entwicklungen keine Notiz zu nehmen.
